Systemische Familienbegleitung

Marianne S. und ihr Sohn haben fünf schwierige Jahre hinter sich. Doch auch in den dunkelsten Augenblicken zweifelte sie nie daran, dass Mario zurück ins normale Leben finden würde. Die vierfache Mutter erzählt, wie sie ihren Jüngsten dorthin begleitet hat – und wie die systemische Familienbegleitung der vernetzten Jugend- und Elternbildungsarbeit jubh.ch  diesen Weg prägte.

 

«Mario ist nie besonders gern in den Unterricht gegangen. Doch Probleme hatten wir deswegen nie.» Seine drei älteren Geschwister hatten die obligatorische Schulzeit ohne nennenswerte Schwierigkeiten hinter sich gebracht, wir machten uns auch bei ihm keine Sorgen. Eines Nachts aber stand Mario plötzlich in unserem Schlafzimmer und sagte: Er wolle nicht mehr weiterleben. Mein Mann und ich fielen aus allen Wolken. Mario war dreizehn Jahre alt.

 

Unter keinen Umständen wollte Mario nach den Frühlingsferien zurück in die Schule. Ein erstes Gespräch mit dem Klassenlehrer zeigte, dass dieser nicht die Lösung war, sondern das Problem. Immer wieder hatte er unseren Sohn blossgestellt mit Bemerkungen, dass er den Übergang ins Berufsleben wohl kaum schaffen würde. Mario litt sehr unter diesen Sprüchen.

 

Als Mario es morgens kaum mehr aus dem Bett schaffte, geschweige denn zur Schule, läuteten bei mir die Alarmglocken. Ich bin gelernte Krankenschwester und kenne die Anzeichen einer Depression. Wir gingen zum schulpsychologischen Dienst und zum Hausarzt, trafen Psychotherapeuten und Psychiater. Wir redeten viel, aber es schien nirgendwohin zu führen. Ich hatte den Eindruck, dass auch die Fachleute mit der Situation überfordert waren. Alle wollten Mario möglichst schnell wieder in den Schulalltag eingliedern. Wie es ihm dabei ging, schien zweitrangig.

 

Den Unterricht konnte Mario inzwischen kaum mehr besuchen. Wenn er morgens aus dem Auto steigen sollte – ich hatte damit begonnen, ihn zur Schule zu fahren – wurde er steif wie ein Brett. Dabei vermisste er seine Freunde sehr. «Gäbe es keine Lehrer in der Schule», sagte mir Mario oft, «wäre ich längst zurück.»

 

Wir suchten weiter nach einer Lösung, probierten es mit Akupunktur und Gesprächstherapien, holten Rat bei der Kinderpsychiatrie. Nichts half. Zweifel hatte ich trotzdem keine, weder an Mario noch an mir. Ich wusste immer: Das kommt alles gut. Mario war kein Jugendlicher mit Null-Bock-Attitüde. Er wollte sich aus dieser Situation befreien. Er wusste nur nicht wie.

 

Der Wechsel an eine Privatschule brachte zum ersten Mal etwas Besserung. Endlich hatten wir einen Ort gefunden, an dem man Mario auf Augenhöhe begegnete. Nach einer Weile tauchten aber auch dort neue Symptome auf, zu diesen gehörte der selektive Mutismus: Mario konnte irgendwann nur noch mit der Familie und engen Freunden sprechen – bei allen anderen Menschen versagte ihm die Stimme.

 

Den Schulabschluss schaffte Mario trotzdem. Er war wie ein Befreiungsschlag für uns: Endlich konnten wir das Tempo selbst vorgeben. Ob er nun sofort mit einer Lehre beginne oder noch Zeit brauche, sei völlig egal, habe ich Mario damals gesagt. In ein paar Jahren  interessiere das keinen Menschen mehr.

 

In dieser Zeit stiess ich im Internet auf die vernetzte Jugend- und Elternbildungsarbeit in Baar. Als ich die Seite sah, stutzte ich erst: jubh.ch? War das nur für Jugendliche, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind? Nein, stellte ich rasch fest, die systemische Familienbegleitung richtet sich an alle jungen Menschen, die gerade eine schwierige Zeit durchmachten. Trotzdem wollte ich sichergehen, dass das Angebot wirklich zu Mario passte. Einer, der findet, der Bursche solle sich halt mal zusammennehmen, wäre sicher nicht der richtige gewesen. Die harte Tour funktioniert bei Mario nicht.

 

Das erste Treffen war deshalb entscheidend für mich. In den Vorgesprächen mit mir hatte Philipp Suter, der Mitgründer der jubh.ch, bereits vieles über Mario erfahren: Er hatte sich nicht nur nach bisherigen Abklärungen, der Vorgeschichte und unserer Familie erkundigt, sondern wollte auch wissen, was für Interessen und Träume Mario hatte. Am Bahnhof Baar würde er ihm nun zum ersten Mal persönlich begegnen. Es sollte ein möglichst neutraler Ort sein, wo sich Mario nicht zu sehr unter Druck fühlen würde. Ich spürte trotzdem, wie sich mein Sohn zusammenreissen musste. Wir waren noch nicht beim Auto angekommen, als Mario auf einmal keinen Schritt mehr weiter konnte. Philipp Suter hat in diesem Moment genau richtig reagiert, man merkte ihm seine Erfahrung als Seelsorger an: Er ging freundlich auf Mario zu, sagte ihm, dass er sich freue, dass er zum Treffen gekommen sei und meinte: «Wir machen dann nächste Woche weiter.»

 

Zu Beginn redete bei diesen Begegnungen vor allem ich. Ich war so etwas wie das Sprachrohr von Mario geworden und wusste, wo seine Grenzen lagen. Es ging nicht darum, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Was Mario von sich aus geben konnte, reichte vollkommen. Er bestimmte das Tempo.

 

Mit der Zeit öffnete sich Mario mehr und mehr, und Philipp Suter begann, seine beruflichen Zukunft anzusprechen: Was könntest du dir vorstellen? Was wünschst du dir? In einer Hundepension machte Mario bald sein erstes Praktikum. Später schnupperte er als Metallbauer und lernte schliesslich ein halbes Jahr lang den Arbeitsalltag in einer Gärtnerei kennen.

 

Das Netzwerk von Philipp Suter ist riesig – und trotzdem merkt man sofort, wie sorgfältig er die Menschen auswählt, mit denen er zusammenarbeitet. Diese Arbeitgeber und Ausbildner wissen alle genau, was es bedeutet, Jugendliche in einer schwierigen Lebensphase bei sich im Betrieb aufzunehmen. Philipp Suter bleibt aber immer der Dreh- und Angelpunkt: Er geht regelmässig bei den Betrieben vorbei oder erkundigt sich auch mal unkompliziert via WhatsApp, wie es gerade läuft. Immer spürt man in diesen Begegnungen, mit wieviel Wärme und Verständnis er sich für die Jugendlichen engagiert.

 

Für Mario war inzwischen klar: Er wollte Landschaftsgärtner werden. Es gefiel ihm, den Tag draussen zu verbringen, mit den Händen zu arbeiten und am Abend vor sich zu sehen, was er geleistet hatte. Heute ist mein Sohn zwanzig Jahre alt und macht sein zweites Lehrjahr als Landschaftsgärtner. Er hat eine Freundin und steht mit beiden Beinen fest im Leben. In all den schwierigen Jahren wurde mir immer wieder gesagt, vielleicht müsse ich mich halt einfach abfinden mit unserer Situation. Das kam für mich nie in Frage. Zum Glück.»

 

Gespräch aufgezeichnet von Ümit Yoker

 

Systemische Familienbegleitung

Eltern stärken und Erziehungsfragen klären – das sind die zentralen Anliegen ganz verschiedener Formen von  Familienbegleitung. In der Regel gehen Familienbegleiterinnen und Familienbegleiter ein bis zwei Mal pro Woche für mehrere Stunden zu einer Familie nach Hause, im Zentrum steht die Arbeit mit den Eltern. Sind die Kinder noch relativ klein, reicht diese Art der Begleitung normalerweise aus. Sind Sohn oder Tochter aber schon in der Pubertät und kommen Probleme wie regelmässiger Drogenkonsum oder aggressives Verhalten dazu, muss Familienbegleitung breiter gedacht werden.

 

Die vernetzte Jugend- und Elternarbeit jubh.ch hat deshalb begonnen, ihre Familienbegleitung systemisch zu gestalten: Dabei werden ganz verschiedene Ressourcen berücksichtigt, etwa bestimmte Menschen, Orte oder Erlebnisse, die für die Jugendlichen wichtig sind. Zudem sollen nicht nur die Eltern in die Begleitung einbezogen werden, sondern auch das Umfeld der Kinder, also auch andere Familienmitglieder, Trainer, Lehrpersonen sowie passende Therapeuten. Für Philipp Suter, der zwischen 1995 und 2013 diverse Familienbegleitungen kennengelernt und mit verschiedenen Anbietern zusammengearbeitet hat, steht bei der systemischen Familienbegleitung aber immer etwas im Zentrum: die Träume und Talente der Jugendlichen zu erkennen und zu fördern. Ein junger Mensch kann dank der Unterstützung seines Umfeldes z.B. endlich seiner Leidenschaft, dem Rappen, nachgehen. Einem anderen wird ermöglicht, dass er samstags immer in einem Betrieb arbeiten und so sein erstes Geld verdienen kann. Solche Erfahrungen sind entscheidende Schritte auf dem Weg zu mehr Lebenstüchtigkeit und Lebensfreude – und sie tragen zur Entlastung und Stärkung der Eltern bei.

 

Systemische Familienbegleitung trägt nicht zuletzt auch dazu bei, auch die Väter wieder vermehrt ins Boot zu holen. Familienbegleiterinnen und Familienbegleiter begegnen in ihrer Arbeit immer wieder Familien, in denen Väter nach einer Trennung oder Scheidung abwesend sind und sich nicht mehr für das Leben der gemeinsamen Kinder interessieren oder sich daran unterstützend beteiligen. Sie hinterlassen eine Lücke, welche auch die Liebe, Vorbild und Erziehung der Mütter manchmal nicht ersetzen kann.